Konzeption und Evaluation eines Bewegungsprogramms für demenzerkrankte Personen in vollstationären Altenpflegeeinrichtungen - Eine empirische Untersuchung

Dissertation von Dr. Andrea Scharpf

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Abstract:

Für die Therapie von hirnorganischen Demenzerkrankungen werden, neben pharmakologischen
Therapieleistungen, nicht-pharmakologische Behandlungsformen wie
körperliche Aktivität herangezogen. Körperliche Aktivität kann auf die kognitive und
motorische Leistungsfähigkeit von Personen mit Demenz eine positive Wirkung haben.
Eine gute Evidenzlage ist jedoch, bedingt durch den Mangel von zielgruppenspezifischen
Bewegungsprogrammen, bis dato nicht eindeutig gegeben. Um diesem Mangel
zu begegnen, wird in der vorliegenden Dissertation ein demenzspezifisches, multimodales

Bewegungsprogramm (DMB) speziell für Personen mit Demenz konzipiert und
mithilfe zweier Interventionsstudien im Sinne der Durchführbarkeit, Wirksamkeit und
Implementierung wissenschaftlich evaluiert.
Methodik:
Studiendesign: Die kontrollierte Pilotstudie soll die Durchführbarkeit des DMB überprüfen
und wird mit einer kleinen Stichprobe in zwei Altenpflegeeinrichtungen in einem
pre- post Design durchgeführt. Die Hauptstudie "Bewegung gegen Demenz" wird als
randomisierte, kontrollierte Interventionsstudie in 36 Altenpflegeeinrichtungen durchgeführt,
um die Wirksamkeit und Implementierung des DMB mit einer großen Stichprobe
im pre-post Design zu evaluieren.
Einschlusskriterien: Voraussetzung für eine Teilnahme an der Pilotstudie sind das Vorliegen
einer demenziellen Erkrankung sowie das Beherrschen der deutschen Sprache.
Zur Teilnahme an der Hauptstudie ist entweder eine, den Kriterien der ICD-10 entsprechende,
Verdachtsdiagnose auf eine hirnorganische, Demenzerkrankung oder eine
bestehende ärztliche Diagnose vorzuweisen (leichter bis mittlerer Erkrankungsgrad,
Mini-Mental State Test (MMST) 10-24). Mindestalter zur Teilnahme sind 65 Jahre, zudem
muss eine Gehfähigkeit von zehn Metern (mit oder ohne Gehhilfe) vorliegen. Eine
Einverständniserklärung und ärztliche Unbedenklichkeit zur Studienteilnahme sind erforderlich.
Intervention: In der Pilotstudie nimmt die Interventionsgruppe (IG) zehn Wochen an
einer verkürzten Form des DMB teil, welches sich aus rein motorischen und kognitivmotorischen
Dual-Task Aufgaben zusammensetzt. Die IG der Hauptstudie besucht
das DMB über einen Zeitraum von 16 Wochen.
Testverfahren: Um die Durchführbarkeit des DMB zu überprüfen werden Teilnahmeund
Drop-out Raten, Sicherheitsaspekte und die Protokolltreue in der Pilotstudie untersucht.
Zudem werden erste Tendenzen zur Wirksamkeit des DMB in der Pilotstudie
für die allgemeine kognitive Funktion (MMST), die psychomotorische Geschwindigkeit
und Aufmerksamkeit (Trail Making Test A (TMT), die Mobilität (Timed Up and Go Test
(TUG)), die Kraftfähigkeiten der unteren Extremität (der Five Times Sit to Stand Test
(FSTS)) und das Gleichgewicht (Functional Reach Test (FR)) herausgearbeitet. Zur
Überprüfung der Wirksamkeit werden in der Hauptstudie ebenfalls die Testverfahren
MMST, TMT und TUG eingesetzt Der Sit to Stand Test (STS) und die Frailty and Injuries:
Cooperative Studies of Intervention Techniques-4 (FICSIT) ersetzen die Testverfahren
FSTS und FR. Nach Abschluss der Hauptstudie werden zudem Mitarbeitende
zur selbstständigen Alltagsgestaltung der Teilnehmenden und dem benötigten Pflegeaufwand,
beziehungsweise zur Implementierung des DMB befragt.
Statistik: Um die Durchführbarkeit zu überprüfen werden deskriptive Statistiken sowie
retrospektive Einschätzungen berichtet. Mithilfe von parametrischen (Student’s t-Test),
beziehungsweise nicht-parametrischen Berechnungsverfahren (Mann-Whitney-U
Test, Wilcoxon Test) werden in der Pilotstudie erste Tendenzen zur Wirksamkeit des
DMB untersucht. Die Wirkung von körperlicher Aktivität auf die Leistungsfähigkeit von
Personen mit Demenz wird in der Hauptstudie durch eine Per-Protocol Analyse untersucht.
Mittels zweifaktorieller Varianzanalyse mit Messwiederholung, beziehungsweise
parametrischen und nicht-parametrischen Analyseverfahren werden Gruppenund
Zeiteffekte berechnet. Zusätzlich wird eine Subgruppenanalyse (Teilnehmende
mit leichtem (N= 57), beziehungsweise mittlerem Erkrankungsgrad (N= 51)) durchgeführt.
Die Befragung der Alltagsgestaltung und zum Pflegeaufwand wird jeweils über
Gruppenvergleiche von IG und Kontrollgruppe (KG) ausgewertet. Die Ergebnisse zur
Implementierung des Bewegungsprogramms werden deskriptiv berichtet.
Stichprobe und Ergebnisse:
Stichprobe: Von N= 32 geeigneten Teilnehmenden konnten N= 19 in die Pilotstudie
eingeschlossen werden (IG: N= 8, MMST= 17,8 (4,0); KG: N= 11, MMSE= 17,0 (5,1).
Die Teilnehmenden der IG waren im Mittel 84,2 (6,3) Jahre alt, die der KG 86,4 (3,3).
N= 15 Teilnehmende wurden in die Auswertung eingeschlossen (IG: N= 6, KG: N= 9).
Von N= 600 geeigneten Personen für die Hauptstudie wurden N= 344 in die Studie
und N= 108 in die Per-Protocol Analyse aufgenommen (IG: N= 61, MMST= 17,9 (4,1);
KG: N= 47, MMST= 17,2 (3,8)). Die Teilnehmenden waren im Mittel 83,7 (6,5) (IG) und
85,3 (5,5) (KG) Jahre alt. Für die Befragung der Mitarbeitenden wurden für die selbstständige
Alltagsgestaltung und den Pflegeaufwand N= 16 von N= 36 versendeten Fragebögen
ausgewertet. Für die Implementierung konnten alle rückläufigen Fragebögen
in die Auswertung einbezogen werden (N= 29 von N=72).
Ergebnisse: Die Durchführbarkeit des DMB kann bestätigt werden. Zudem weisen
erste Tendenzen auf eine positive Wirkung des DMB auf die kognitive und motorische
Leistungsfähigkeit hin. Die Ergebnisse der Hauptstudie zur Wirksamkeit des DMB ergeben
für die Gesamtstichprobe und die Subgruppe mit leichtem Erkrankungsgrad
keine statistisch signifikanten Zeit- und Gruppeneffekte. Die IG der Subgruppe mit mittlerem
Erkrankungsgrad zeigt lediglich im TMT eine statistisch signifikante Veränderung.
Sowohl im pre-post Vergleich (TMT Bearbeitungszeit: p= ,005; TMT Durchführungsqualität:
p= ,022) als auch im Vergleich zur KG (TMT Bearbeitungszeit: p= ,042)
fällt die IG in ihrer Leistung ab. Die selbstständige Alltagsgestaltung wird von den Befragten
für die IG im Vergleich zur KG als verbessert eingeschätzt („körperliche Aktivität“:
p= ,035, „geistige Aktivität“: p= ,010, „soziale Teilhabe“: p= ,009; Multi-Item Skala
„selbstständige Alltagsgestaltung“: p= ,015). Der Pflegeaufwand wird für IG und KG
als gleich hoch angesehen, lediglich die „Mobilität“ (p= ,036) wird in der IG in diesem
Zusammenhang Im Vergleich zur KG bewertet.
Diskussion und Ausblick:
Die Durchführbarkeit des DMB konnte mithilfe der Pilotstudie gezeigt werden. Es ließen
sich positive Tendenzen der kognitiven und motorischen Leistungsfähigkeit aufzeigen,
die Überprüfung der Wirksamkeit durch die Hauptstudie konnte diese jedoch
nicht bestätigen. Mögliche Gründe hierfür könnten die Heterogenität der Gesamtstichprobe
sowie die daraus resultierenden, heterogenen Übungsgruppen sein. Die reduzierte
Aufmerksamkeitsfähigkeit der Subgruppe mit mittelgradiger Erkrankung lässt
den Schluss zu, dass das DMB durch weitere Studien noch spezifischer auf die Zielgruppe
Personen mit Demenz abgestimmt werden muss (z. B. Kommunikation, Gruppengröße).
Die Implementierung des DMB in den Altenpflegeeinrichtungen konnte teilweise
umgesetzt werden. Für eine strukturierte und potenziell erfolgreiche Implementierung
von gesundheitsbezogenen Interventionen sollten zukünftige Studien bereits
zu Beginn eine Verknüpfung zum späteren Anwendungsbereich im Sinne einer transdiziplinären
Herangehensweise herstellen.